Die doppelte Insel
Die doppelte Insel
An diesem Samstag kroch Ruth nur mühsam unter ihrer Bettdecke hervor. Es war ein stürmischer und verregneter Novembermorgen.
Ruth setzte das Kaffeewasser auf, schaltete das Radio ein und schlurfte ins Bad.
Nun musste sie doch schmunzeln. Der Radiosprecher beschwor seine Zuhörer im Bett zu bleiben um dort den Tag zu verschlafen. Darauf folgte der Song ...“Ich bin reif für die Insel, reif, reif, längst überreif“....
Ruth goss den Kaffee auf und Frühstückte genüsslich. Seufzend warf sie dann noch einmal einen Blick in ihr halbleeres Wohnzimmer, genau auf die Stelle, wo ihre neue „Insel“ seit gestern stehen sollte. Sehnsüchtig und zugleich wütend beschimpfte sie in Gedanken die Möbeltransportfirma, durch die die Verzögerung der Lieferung ihrer neuen Sitzgruppe „Insel“ zu Stande kam. Bis nächsten Mittwoch sollte sie so hausen. Dabei hatte sie sich alles so wundervoll ausgemalt.
Das erste Wochenende ohne große Verpflichtung und Stress. Nur sie und die Couch „Insel“, beige, von schilffarbenem Blättermuster durchzogen, Rückenlehne auf Knopfdruck nach hinten ausfahrend, zu einem Rondell sich biegend, wobei im selben Augenblick die Sitzfläche vergrößert wurde und aus den Armlehnen Palmenwedel hinaufschossen, von denen jeweils ein Paradiesvogel hinunterblickte und die gesamte Couch das Aussehen einer Insel annahm.
Ein einzigartiger Entspannungsgenuss mit absolutem Wohlfühleffekt wurde versprochen.
Was soll’s, Ruth hatte sich bis Mittwoch auf dem Fußboden wohl zu fühlen.
Nach dem Frühstück versorgte Ruth, wie jeden Tag, Frau Mele. Eine ältere Dame, an den Rollstuhl gefesselt, die im Parterre wohnte. Danach machte sie noch einige kleinere Besorgungen und rüstete sich sowie ihr Fahrrad für die Fahrt zum Friedhof.
Der Regen hatte aufgehört, jedoch blieb das Grau dieses Novembertages erhalten.
Unterwegs kam sie an des Bäckerei „Müller“ vorbei, wo sie anhielt um sich wenigstens ihren Lieblingskäsekuchen zu gönnen. Ruth kaufte gleich drei Stück, trug majestätisch das Bäckerpaket zum Rad und legte es in ihren Fahrradkorb welcher auf dem Gepäckständer befestigt war.
Jetzt kam doch etwas Wochenendstimmung in ihr auf. Wenn sie nach Hause kommt würde sie einfach Kaffee in der Thermoskanne aufbrühen, sich ins Bett setzen, wie der Radioreporter empfohlen hatte, gemütlich Kaffee schlürfen und den ganzen Kuchen auf einmal verschlingen. Diese Vorstellung versetzte sie so in Hochstimmung, dass sie fast atemlos auf dem Friedhof anlangte.
Nahe der Wasserpumpe, an einer Hecke, stellte sie ihr Fahrrad ab und machte sich sofort an die Pflege der drei Gräber. Sie war sogar kreativer als sonst bei der Grabgestaltung, lachte ,als sie den Toten von ihrem Vorhaben, im Bett Picknick zu halten, erzählte.
Jäh fuhr ihr der Schreck in die Knochen als sie sich zum Fahrrad umwandte und kein Bäckerpaket mehr im Korb lag.
Gibt es denn so etwas, schimpfte sie immer lauter werdend. Jetzt klauen sie einem sogar schon Käsekuchen auf dem Friedhof. Diese Brüder, diese Verdammten..., vor gar nichts haben sie Respekt...und sie wusste eigentlich selbst nicht so recht wen sie damit meinte.
Zerknirscht, matt und fröstelnd schwang sie sich aufs Rad und fuhr nach Hause.
Enttäuscht stieg sie die im halbdunkel liegende Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Sehr wütend drehte sie den Schlüssel im Schloss hin und her. Hatte sie etwa auch noch vergessen abzuschließen? Denn als sie die Türklinke herunterdrückte war die Tür bereits offen.
Nein, war das möglich, Träumte sie, ein Spuk?
Im Wohnzimmer stand die „Insel“, bloß etwas anders. In schilfgrün von beigefarbenem Blättermuster durchzogen. Ausgeklappt zu einer Insel, doch von den Palmenwedeln lächelten sie jeweils zwei Affen an. Davor stand ein Tisch in gelb, in der Form einer Banane.
Auf dem Tisch, zum großen Erstaunen, eine Kanne Kaffee, zwei Tassen und dazu ein großer Teller mit Käsekuchen.
Perplex setzte sie sich auf die Insel, griff gierig nach einem Stück Kuchen, biss hinein und schlang hastig den Rest hinunter.
Na ja, das falsche Model. Sicher war der Tisch eine Gratisgabe der Firma, der Affen halber und die Nachbarn haben’s gut gemeint, wenigstens Kaffee und Käsekuchen. Wahrscheinlich haben die Leute vom Möbeltransport bei Herta geklingelt, da sie den Ersatzschlüssel zu Ruths Wohnung besitzt.
Als Ruth sich nun so recht besann, dass sie Herta danken müsse für den liebevollen Empfang, öffnete sich die Wohnzimmertür und Ruth blickte erschrocken auf die Gestalt, die nun ihrerseits genau so erschrocken auf Ruth starrte.
Vor ihr stand plötzlich ein junger Mann, leicht bekleidet, das Wort Liebling nur zur Hälfte laut herausschreiend, als er anstatt seiner jugendlichen Janette nun die achtzigjährige Ruth auf der Couch sitzen sah.
Im selben Atemzug riefen beide „was soll das, wer sind sie“.
Neuerdings gönnen sich wohl die Einbrecher eine Dusche und einen Imbiss bevor sie eine Wohnung ausrauben.
Na, na Oma, nicht so. Sie haben wohl schon ihre Rente verjubelt und essen sich nun bei den Nachbarn durch, konterte Herbert zurück.
So ging es noch ein Weilchen zwischen den beiden, da erschien eine junge Frau, die sich bei Ruth als Herberts Freundin Janette vorstellte.
Dass fängt ja gut an meinte Janette. Kaum bist du umgezogen Herbert, hast du schon eine neue Freundin zum Kaffee geladen.
Daraufhin lachte Janette so herzerfrischend, dass die beiden anderen nicht mehr an sich halten konnten und mitlachten.
Herbert holte ein drittes Gedeck, goss dann den Kaffee ein und stellte sich als ein neuer Mieter des Hauses vor. Noch etwas durcheinander stellte sich Ruth nun ihrerseits vor.
Wieder mussten alle lachen als Ruth mit ihrem Tagesbericht zu ende war und endlich feststellte, dass sie in der falschen Etage angekommen war.
Es wurde ein sehr lustiger Kaffeenachmittag.
Gegen Abend stieg Ruth, begleitet von Janette, die zwei Treppen zu ihrer Wohnung hinunter.
Als sie aufschloss war sie noch immer leicht benommen von den Turbulenzen dieses Tages.
Zuerst stellte sie den Teller mit drei Stück Käsekuchen, welche ihr Janette mit hinunter brachte, in den Kühlschrank. Zufrieden öffnete sie ihre Wohnzimmertür, knipste das Licht an und schrie auf.
Da stand ihre Insel! Beige, von schilffarbenem Blättermuster durchzogen, Rückenlehne auf Knopfdruck nach hinten ausfahrend, zu einem Rondell sich biegend wobei im selben Augenblick die Sitzfläche vergrößert wurde und aus den Armlehnen Palmenwedel hinaufschossen, von denen jeweils ein Paradiesvogel hinunterblickte und die gesamte Couch das Aussehen einer Insel annahm.
Auf ihrem Couchtisch ein Kartengruß von Herta.
Kaum zu glauben, die „Insel“ war da.
Mit einem Satz hüpfte die achtzigjährige auf ihre neue Couch. Dann holte sie ihr Bettzeug, heute Nacht wollte sie auf der Insel schlafen.
Gegen Mitternacht schreckte sie aus dem Schlaf, betastete die Palmenwedel sowie die Paradiesvögel die auf sie hinunterblickten, lächelte selbstversunken.
Ja und dann, ging sie zum Kühlschrank, holte sich ein Stück Käsekuchen, aß dieses auf der Insel und schlief glücklich in den Sonntagmorgen.